Ein Menschheitsprojekt
Ich möchte in diesem Buch die These vertreten, dass unser Zeitalter, gegen jeden Anschein, eine günstige Zeit darstellt. Ich möchte zeigen, wie eine neue, reifere und freiere Menschheit mühsam auf unserem Planet entsteht, gerade durch die Konflikte und extremen Widersprüche der abendländischen Kultur, die, in der aktuell vorherrschenden Version, nicht mehr in der Lage zu sein scheint, unserem Planet eine Ordnung zu verleihen, obwohl dieser Planet einen Prozess der Vereinigung erfährt gerade durch seine Markt- und Technologieleitlinien. Ich möchte also die These vertreten, dass die Herausforderung, vor der wir stehen, eine endgültige ist, und zwar zwischen verschiedenen Menschheitsentwürfen, zwischen Anthropo-logien, und dass wir nur auf diese Ebene unsere Reflexion konzentrieren sollten.
Das Phänomen der Globalisierung signalisiert uns jeden Tag mehr und mehr, durch die Unhaltbarkeit und die Unausgeglichenheiten, die sie verursacht, die Dringlichkeit, ein neues Denken zu erfinden, das in der Lage ist, auf planetarischer Ebene Probleme zu sehen und Lösungen zu planen […]. Es kann seltsam klingen, aber das, was wir heutzutage am dringendsten brauchen und was am meisten fehlt, ist eine Arbeit des Geistes, eine absolute kulturelle Kreativität.
Allzu selten wird aber betont, dass ein Denken, das wirklich globaler sein sollte, nur aus einer Menschheit hervorgehen kann, die sich um die Verwandlung des eigenen Bewusstsein bemüht, da unser Standpunkt bzw. unser Blickwinkel normalerweise einseitig, partiell, kurzsichtig oder, wenn wir es so formulieren wollen, egoistisch, also im Wesentlichen antiglobal und von Natur aus kriegerisch ist. Wir werden also weder den Krieg als das neue Tabu des dritten Jahrtausend zur Seite legen können, noch werden wir jemals eine neue Menschheit (sprich, eine neue Kultur) aufbauen können, die authentisch auf Frieden ausgerichtet ist, wenn wir nicht in die Tagesordnung neben ein politisches Projekt der planetarischen Versöhnung eine ständige Arbeit an uns selbst aufnehmen, die jeder leisten muss, um seine eigene kriegerische Natur abzuschwächen. Der politische Gedanke des 21. Jahrhunderts wird also die psychologischen und persönlichen Dimensionen der Verwandlung in die eigenen planetarischen Verwandlungsstrategien einfügen müssen, wenn wir nicht die Gräuel des 20. Jahrhunderts reproduzieren wollen, die meistens von Personen ausgingen, die sich einbildeten, den Frieden und die Gerechtigkeit auf Erden zu bringen, ohne sich selbst zu verwandeln, ohne bemüht zu sein, Tag für Tag selbst gerechter und friedlicher zu werden. […]
Wenn in dieser revolutionären Phase der Geschichte die politische Ebene dazu tendiert, sich unweigerlich mit der psychologisch-spirituellen Ebene auf komplizierte Art und Weise zu verflechten, dann werden noch viele andere Verflechtungen von bisher fernen Wissenschaftsfeldern nötig sein. Bereits während des 20. Jahrhunderts haben alle wirklich innovativen Werke die historischen Einteilungen der jeweiligen Wissenschaftsfelder, innerhalb derer sie entstanden waren, übertreten: so ist das philosophische Werk, das das 20. Jahrhundert einleitet, eine Dichtung („Also sprach Zarathustra“ von Nietzsche), und die ganze abendländische Philosophiegeschichte vollendet sich in der (dichterischen) Interpretation von Versen einiger Dichter durch Heidegger, jenseits von jedem klassischen Philosophieren; Psychiater wie Freud und Jung, , interessieren sich für griechische Mythen, für den hebräischen Monotheismus, für Alchemie, für den I Ching oder für Ufos, gerade indem sie ihre therapeutischen Wege gehen; zugleich bieten uns die größten Physiker wie Einstein, Schrödinger, Heisenberg und Bohr Beschreibungen der Realität an, die mit mystischen Erfahrungen vergleichbar sind […]. Wie sollten wir die Werke von Simone Weil oder […] die kirchlichen Reflexionen von Bonhoeffer einordnen? Sind diese Werke Philosophie? Theologie? Existenzielle Tagebücher? Prophezeiungen? Inter-personale Psychologie? […] Sind all diese „weltliche“ oder „religiöse“ Forschungen? Sollten wir nicht eher annehmen, dass diese Unterscheidungen und Trennungen schlicht und einfach nicht mehr funktionieren, da diese kreativen Werke […] auf neue Art und Weise Bereiche untrennbar miteinander verbinden, die einst strikt getrennt waren? […]
Das Denken der neuen Menschheitsgestalt, die in jedem von uns langsam geboren wird, kann in keinen vorhandenen, bereits festgelegten Wissensbereich der anthropologischen Ära, die ihre Vollendung erlebt, voll und ganz eingeordnet werden. In diesem Sinne ist das Entstehende nicht von dieser Welt. Es entsteht also in Bereichen, […] in denen die Worte wieder Poesie, Erfindung, Erleuchtung, Entdeckungen, […] eben Menschheits- und Weltentwürfe sind. Dies impliziert unweigerlich große Fehltritte und Fehlerrisiken: auf der anderen Seite können wir nicht darauf bestehen, diese sich vollziehende Geburt mit wissenschaftlichen Mitteln, sprich, mit begrifflichen Mitteln der Vergangenheit, zu be-gründen. […]
Der entstehende Mann und die entstehende Frau werden also nicht aus dem Nichts geboren, sondern sie vollenden und reinigen alle Evolutionsprojekte der Moderne: die Befreiung von jeder politischen, ökonomischen oder religiösen Unterwerfung, die Demokratie, der allumfassende, uneingeschränkte wissenschaftliche Schwung, die technologische Forschung, die Wertschätzung der einzelnen Person und ihrer Rechte und eben die planetarische Vereinigung. Aber diese neue Menschheit reinigt radikal diese neuen Projekte von den zerstörerischen Anmaßungen des modernen abendländischen Ichs, von seinen falschen Hoffnungen einer beziehungslosen Autonomie, seines egoistischen Gutdünkens, von seiner unilateralen, ego-zentrierten Perspektive (die rationalistisch, dogmatisch, ideologisch, inquisitorisch oder szientistisch sein kann) und von seinem daraus resultierenden imperialistischen und räuberischen Instinkt. Die entstehende Menschheit lässt all diese Illusionen und die ego-zentrische Arroganz untergehen, indem sie auch hier jene katastrophale und gleichzeitig regenerative Krise des abendländischen Egos, seiner verabsolutierten technologisch-rechnenden Rationalität, verursacht, die durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch geht […].
Die neue Menschheit wird also zur legitimen und universellen Erbin des historischen Zyklus‘ der Modernität, aber radikal überdacht, überboten und von den eigenen spirituellen Wurzeln ausgehend gereinigt, von Wurzeln, die hebräisch-christlich sind, wie fast jeder heutzutage zugibt. Ein theologischer bzw. messianischer (sprich ein christologischer) Begriff war es in der Tat, der die Modernität gründete, d.h. die Idee eines novum, einer historischen Neuheit, besser als jede Tradition oder antike Weisheit. Dass das Neue besser als das Alte (bzw. als das Ursprüngliche) sein könnte, ist in der Tat eine in der anthropologischen Geschichte des Planeten nie zuvor gewagte Intuition, die erst in der christlichen Verkündigung des Neuen Menschen wurzelt und Kraft findet, der eben nicht von dieser (alten) Welt ist (Joh. 8,23) und der sich eben zum Vermittler eines neuen Bundes, einer neuen Ordnung der Dinge, sogar einer neuen Schöpfung macht, innerhalb derer die ganze Menschheit und die ganze Schöpfung, der Herrschaft der Angst, des Hasses und des Todes entzogen werden und bereits jetzt (wenn auch durch die Mysterien und prophetisch) entzogen werden können, und somit den einzigen und wahren Frieden in sich selbst und um sich herum erfahren können. Dieses messianische und eschatologische Element (trotz der vielen katastrophalen, widersprüchlichen Nachahmungen) allein ist der wahre Antrieb der Moderne, das u.a. die Schätze der griechisch-römischen Antike wieder entdecken konnte. […] Dies […] impliziert auch eine tiefgründige Revidierung aller historischen (theologischen, liturgischen, kirchlichen und geistlichen) Formen des christlichen Glaubens, eine Erneuerung, die das Zweite Vatikanische Konzil innerhalb der katholischen Kirche erst eingeleitet hat. […] Die neue Menschheit […] wird also ihre eigene christliche Kultur zum Ausdruck bringen und alle historischen christlichen Traditionen erneuern und vielleicht sogar all die Spaltungen auflösen, die seit Jahrhunderten die Christenheit zerreißen und die ihr Zeugnis des Friedens und der Einheit unglaubwürdig machen, die letzten Endes nichts anderes sind als die grundlegenden Inhalte des genetischen Projektes der Schwangerschaft dieser neuen Menschheit, sowohl was das Innenleben als auch was die historisch-planetarische Ebene betrifft. […]
Nun ist offensichtlich, dass wir uns mitten in einer anthropologischen Wende befinden, dass sich jeder von uns in einer apokalyptischen Not befindet. Es ist kein Zufall, dass alle Menschen, die seit 1945 geboren worden sind, in einem Klima der Endzeitstimmung groß geworden sind, denn entweder der nukleare Krieg oder die ökologischen Katastrophen stellen Gefahren dar, die diese Apokalypse entweder präsent machen oder im besten Fall ankündigen.
Auf der persönlichen Ebene findet diese anthropologisch-kulturelle Krise ihren Ausdruck […] in einer allesumgreifenden Krise der Identitäten: Mann oder Frau, Priester oder Laie, Katholik oder Buddhist, rechts- oder linksorientiert, Italiener […] oder Europäer zu sein usw.: Jede Identitätsgestalt wird erschüttert in einer realen wahrlich verklärenden Passion. Diese ist die psycho-historische Grundlage, die auf der Basis der postmodernen geistigen Erscheinungen steht […].
Inmitten eines Wirrwarrs solchen Ausmaßes, tendieren die Menschen dazu, hauptsächlich zwei psychologische bzw. kulturelle Haltungen zu entwickeln, die jeder von uns (mehr oder weniger stark) in sich selbst findet und sei es auch nur als Versuchung:
- Die erste ist die fundamentalistische Haltung: man sucht Zuflucht in irgendeiner Identitätsfigur der Vergangenheit oder der Tradition, die uns einen Zugehörigkeitssinn gewährt und womöglich befriedigende gemeinschaftliche Beziehungen mit sich bringt, die uns aus der aktuellen Entfremdung Unter dieser Perspektive sind alle extremistischen (ethnischen oder religiösen) Bewegungen zu verstehen, die seit zwanzig Jahren immer stärker werden. Der Fundamentalismus bzw. der Extremismus sind in der Tat ein typisches spätmodernes Phänomen, es stellt die Angst des Verlustes der eigenen kulturellen Identität dar, also die Angst vor dem apokalyptischen Szenario der eigenen Welt.
Aber auch einige abendländische oder amerikanische Bekehrungen zum Buddhismus oder zum Yoga oder zu verschiedensten esoterischen Gruppen, scheinen eine völlig akritische Übernahme fremder Identitäten zu sein, ohne jegliches Bewusstsein für die historische Relativität jeglicher Identität […], also eine fundamentalistische, präkritische und prämoderne Geisteshaltung. […]
- Die zweite vorherrschende Haltung ist die, die wir als eine „nihilistische“ definieren könnten und sie wird vom Fortschritt der modernen Medien besonders gefördert, die von einem globalen Markt gelenkt sind, der ein großes Interesse daran hat, menschliche Individualitäten zu formen, die immer mehr entwurzelt sind und somit bereit, sich von der universellen Kommerzialisierung vereinnahmen zu lassen. In dieser Haltung gibt man jedwede eigene historische und kulturelle Identität auf, sprich jeglichen gemeinsamen Sinneshorizont, denn man meint (oder glaubt), dass diese Entwurzelung, die mit kleinen und häufigen oralen oder visuellen Befriedigungen besetzt ist, das Maximum sei, was dem modernen Menschen vergönnt ist.
Es ist interessant und auch ein bisschen lächerlich zu sehen, dass diejenigen, die eine fundamentalistische Haltung einnehmen, lediglich die Gefahr eines Relativismus unterstreichen, während diejenigen, die eine nihilistische Tendenz aufweisen, nur die Gefahr eines Fundamentalismus sehen. Aber die Gefahren sind eigentlich zwei und beide sind tödlich für unsere entstehende Menschheit. Dies sollte man nie vergessen.
Beide Haltungen werden auf psychologischer Ebene durch die Angst ausgelöst, es sind Versuche bzw. Einbildungen, den Prozess der sich vollziehenden Verwandlung zu stoppen […]. Für den Nihilist kann eben alles manipuliert und verwandelt werden, außer sein kleines, hochmütiges Ego, das so bleiben will, wie es ist, und alles entscheiden will, man weiß nicht, nach welchen Kriterien…
Sowohl die Fundamentalisten als auch die Nihilisten wollen sich nicht vom aktuellen Lauf der Geschichte verändern lassen. Sie wollen nicht die Kontrolle verlieren. Sie wollen nicht als kleine Egoisten, Extremisten oder Liberale sterben, aber dieser ist eben der erste kleine Schritt: die tausenden und abertausenden Zwänge unserer erstarrten Identitäten aufzugeben. […]
Übersetzung dieses Auszuges: Emanuele Pompetti