Soziale Ungleichheiten und innere Wüste

Kann ein authentischer spiritueller Weg auch eine politisch-soziale Bedeutung haben? Wir sprechen darüber mit dem Philosophen Marco Guzzi.

Frage: In den letzten Interviews haben wir über das zunehmende Bedürfnis nach Sinnsuche gesprochen, das zum Aufblühen vieler spiritueller Bewegungen, die genau auf dieses Bedürfnis eingehen, geführt hat, wie zum Beispiel auch die Bewegung Darsi Pace, die du gegründet hast. Doch kann – wie du selbst sagst – ein spiritueller Weg innerer Erneuerung nicht losgelöst werden von einem tiefgreifenden Veränderungsprozess auf politischer und gesellschaftlicher Ebene. Die Bewegung Darsi Pace trägt nämlich den Untertitel „Innere Befreiung – Veränderung der Welt“. Wie die jüngsten statistischen Daten leider erneut bestätigen, weitet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr aus. Nach einem Bericht von Oxfam verfügen die reichsten ein Prozent in Italien über mehr als 70 % der Ärmeren. Über 30% der jungen Menschen verdient monatlich weniger als 800 Euro brutto und 23% der jungen Menschen unter 29 Jahre ist arbeitslos. Auf globaler Ebene sieht es leider nicht besser aus: 1% der Reichsten besitzt in der zweiten Hälfte von 2019 über das Doppelte des Reichtums von 6,9 Milliarden Menschen. Diese Daten spiegeln sich in der Wirklichkeit in den alltäglichen Schwierigkeiten von Millionen von Familien wider. Angesicht dessen, wie kann man sich mit der eigenen inneren Veränderung beschäftigen, wenn man sich in einem solchen Zustand von materieller Not befindet?     

In erster Linie sollten wir uns fragen, aus welchem Grund im Jahr 2020 die sozialen Ungleichheiten immer weiter wachsen. Einfach ausgedrückt fehlen meiner Meinung nach einfach die Ideen. Es fehlt ein politischer Gedanke und somit auch ein philosophisch-kultureller, der dieses Weltsystem in Frage stellt. Ein Gedanke, der revolutionäre und demokratische Pfade vorzeichnet und später auch vollziehen kann. Der Mangel also an neuen, starken, bedeutungsvollen Worten ist die wahre Ursache des Hungers nach Brot und Gerechtigkeit, den wir so unglaublich stark in dieser Phase der Geschichte spüren. Das bedeutet, dass der Hunger nach Worten und der Hunger nach Brot derselbe Hunger sind. Und es ist in Wirklichkeit der Hunger nach Worten und der Mangel an neuen Gedanken, die für die soziale Ungerechtigkeit, über die wir uns dann beschweren, verantwortlich sind. Wenn das neoliberale System, die neoliberale Philosophie und die neoliberale Wirtschaft seit mindestens 35-40 Jahren bei uns im Westen vorherrschen – und monströse Ungleichheiten verursachen – dann liegt das daran, dass es keine Worte, keine Gedanken gab, die dieser vorrangig erst theoretischen und dann ökonomischen und politischen Vorherrschaft etwas hätten entgegensetzten können. Erst später treten die wirtschaftlichen Folgen zu Tage, über die Oxfam spricht. Die innere Befreiung – also die tiefgründige Arbeit an sich selbst – ist also die unabdingbare Voraussetzung, um dann den vorherrschenden Gedanken zu ändern. Woher können wir sonst die Ideen nehmen? Woher nehmen wir die neuen Weltanschauungen, über die alle Politiker immer sprechen, ohne sich zu fragen, warum es sie nicht gibt? Gedanken hervorzubringen ist die natürliche Tätigkeit der Menschen und die kreative Schöpfung seine Weise, zu Sein. Es gibt ein tiefes Problem in der menschlichen Seele, die blockiert ist und seit Jahrzehnten keine vernünftige Kunst, keinen vernünftigen Gedanken und keine vernünftige politische Bewegung hervorbringt. Die innere Befreiung ist die unabdingbare Voraussetzung für eine kulturelle Veränderung, die ihrerseits wiederum die Voraussetzung für eine ökonomisch-politische Veränderung, die das menschliche Leben betrifft, darstellt. Das ist die erste Sache.

Die Zweite ist, dass die Ungerechtigkeit nicht nur eine wirtschaftliche Ungleichheit ist. Die Ungerechtigkeit ist ein schwieriger Begriff, der vom Begriff der Gottlosigkeit in der Bibel herklingt. Die Ungerechtigkeit ist in der Bibel eine falsche, verzerrte Beziehung zwischen dem Menschen und Gott. Es gibt eine Ungerechtigkeit, die wir nicht bemerken und worüber wir nicht sprechen, auf Basis derer sich unsere menschlichen Gesellschaften auf unsinnige Weise immer mehr aufbauen. Demnach ist alles bedeutungslos, ohne letztendlichen Sinn. Auf dieser Grundlage wird dann eine ganze Kultur aufgebaut, das heißt eine kommunikative Sprache bestehend aus Filmen, Fernsehen, Werbung, Büchern, Schulbildung, Hochschulausbildung, die längst automatisch das menschliche Herz zerstört. Es ist eine Verwüstung des menschlichen Herzens. Der Mensch, der dieses Gemetzel an der Seele miterlebt, ist unter diesen Zuständen dazu angehalten, nach anderen Wegen zu suchen. Nach anderen Mitteln, die dem Menschen die Kraft geben, die er woanders nicht finden kann. Und leider geht die Krise des christlichen Glaubens und der christlichen Kirchen einher mit dieser Phase, die wir „Wüste“ nennen können. Auf der anderen Seite kann diese spirituelle Wüste, diese verwüstete oder verlassene Erde – wie sie von T.S. Eliot schon vor nahezu einem halben Jahrhundert genannt wurde – ein Ort des Neubeginns sein. Bekanntermaßen ruft Gott – laut biblischem Archetyp – den Menschen in der Wüste an, um mit ihm zu sprechen. Diese kulturelle und gesellschaftliche Einöde, aus der letztendlich auch die Bewegung Darsi Pace entstanden ist, kann ein entscheidender Anstoß sein, um nicht nur neu anzufangen, sondern auch, um neue Kräfte anzusammeln und der Gesellschaft einen neuen Start zu geben. Wir befinden uns nämlich in einer Phase, an einem historischen Scheideweg, wo die menschliche Gesellschaft selbst in Frage gestellt ist. Der Weg der inneren Befreiung muss also zu dem zukünftigen Projekt der Demokratie dazugehören. Die inneren Vorgänge können nicht mehr separat vom demokratischen Projekt der Gerechtigkeit stattfinden. Aus diesem Grund kann ein wahres politisches Projekt, das auch die sozialen Ungerechtigkeiten wirklich verändern will, nicht absehen von einer tiefen Erkenntnis über das menschliche Innere.

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Interview von Maila Arelli