„Die Weihnachtszeit ist die Zeit, in der wir uns unserer Sehnsüchte bewusst werden. Wenn wir still vor einer Kerze sitzen, wenn wir die Weihnachtslieder leise vor uns hinsingen, dann steigt in uns eine Sehnsucht auf, die diese Welt übersteigt. Die Sehnsucht macht das Herz weit. Aber sie tut auch weh. Daher verdrängen viele ihre Sehnsucht. Verdrängte Sehnsucht aber führt zur Sucht.
Jeder von uns kennt in sich Süchte. Die Sucht nach Anerkennung, nach Erfolg, nach Beziehung, die Sucht nach Alkohol, Drogen, Tabletten, die Arbeitssucht, die Spielsucht, die Esssucht, die Magersucht.
Advent wäre die Zeit, unsere Süchte wieder in Sehnsüchte zu verwandeln. Wenn wir in der Stille unseren Sehnsüchten Raum lassen, dann werden wir spüren, dass wir nicht zufrieden sind mit dem, was wir gerade tun und leben. In uns ist ein unstillbarer Durst nach Liebe, der von keinem Menschen gestillt werden kann. Unsere Sehnsucht geht über diese Welt hinaus.
Wir erahnen, dass allein Gott unsere tiefste Sehnsucht zu erfüllen vermag. Das Wort „sehnen“ bedeutet: liebend verlangen, sich härmen. Sehnsucht meint ein inniges und zugleich schmerzliches Verlangen nach etwas, was das ganze Herz erfüllt. Sehnsucht steigt aus der Tiefe auf. Aber sie bereitet uns auch Schmerzen. Sie schenkt uns Wärme und Weite, und zugleich lässt sie uns schmerzlich erfahren, dass wir weit weg sind von dem, was unser Leben eigentlich ausmachen könnte.
Ein Kinderbuch hat wohl am treffendsten das Ziel unserer Sehnsucht ausgedrückt: „Es muss im Leben noch mehr als alles geben.“ Es kann doch nicht sein, dass wir hier nur darum ringen, einigermaßen gut zu leben, Erfolg zu haben, uns anzupassen, uns durchzukämpfen und eine Existenz aufzubauen. Es muss doch ein größeres Ziel geben. Es muss etwas geben, für das es sich tatsächlich lohnt, alles herzugeben, sich mit dem ganzen Herzen einzulassen. Es muss etwas geben, das mich in der Tiefe berührt, das meine tiefsten Wünsche erfüllt.
Der französische Dichter Saint-Exupéry meint: „Es gibt nur ein einziges Problem auf der ganzen Welt: den Menschen eine Sinndeutung ihres Daseins, eine Art geistiger Sehnsucht und Unruhe wiederzugeben. Man kann nicht länger von Kühlschränken, von Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln leben.“ Und an einer anderen Stelle sagt er: „Wenn du ein Schiff bauen willst, so lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten Meer.“
Setze Dich in der Weihnachtszeit öfter einmal vor eine brennende Kerze und horche einfach still in Dich hinein. Was taucht an Sehnsucht in Dir auf? Bist Du zufrieden mit Deinem Leben? Oder spürst Du, dass es Dein Herz woanders hinzieht? Ist es die Sehnsucht nach Liebe, nach Geborgenheit, nach einem Mutterschoß, in den Du Dich einfach fallen lassen kannst? Ist es die Sehnsucht nach bedingungslosem Angenommenwerden? Oder ist es die Sehnsucht nach wirklichem Leben, nach Lebendigkeit, Fantasie, Inspiration, Kreativität?
Versuche, Deine Sehnsüchte zu Ende zu denken. Folge Deiner Sehnsucht bis an ihren äußersten Rand. Stelle Dir vor, dass in Dir eine Sehnsucht ist, die diese Welt übersteigt und aus dem Ort heraus, an dem Du stehst, in Gott hineinreicht. Mit Deiner Sehnsucht ist etwas Weltjenseitiges in Dir über das diese Welt keine Macht hat, das Dich weiter macht als diese Welt.
Dort, wo Du Dich nach Gott sehnst, dort bist Du frei, dort entfliehst Du Deinem Terminkalender, Deinen vielen Verpflichtungen. Dort sind die Erwartungen Deiner Umgebung nicht mehr wichtig. Dort bist Du in Berührung mit Dir selbst. Du spürst, wer Du selber bist: einer, der in Gott hineinstrebt, einer, in dem Gott selbst wohnen möchte.“
Anselm Grün