Verabredung mit Marco Guzzi
Laut den Daten von Istat besuchte im Jahr 2016 nur ein Italiener von vier ein Mal pro Woche die Messe. Während es in Deutschland im gleichen Jahr jeweils nur weniger als ein Deutscher von sieben war. Heinz Streber, Professor an der Universität Bielefeld, hat im Jahr 2009 eine Untersuchung zum Thema Dekonversion durchgeführt. Aus dem Fragebogen geht hervor, dass auch Personen, die sich nicht im engsten Sinne mit Religion oder der Kirche identifizieren, auf der Suche nach Transzendenzerfahrungen sind. Den Antworten ist zum Beispiel zu entnehmen, dass diese Personen auf der Suche nach Harmonie mit dem Ganzen sind, nach einer höheren Ebene des eigenen Ichs, nach einer Erfahrung von existenzieller Wahrheit usw. Wenn also das Bedürfnis nach Spiritualität so groß ist, was entfernt dann die Menschen von den so genannten traditionellen Religionen und davon, ihre Stätten zu besuchen?
Das Ablassen von den Sakramenten, nicht nur in der Kirche, sondern in Wirklichkeit in allen traditionellen Religionen, hat ganz konkrete historische Ursachen. Wir entstammen einer Zeit – die der letzten Jahrhunderte – in der sichdie menschliche Rationalität auf der Suche nach Autonomie, sowohl im Bereich der Wissenschaft als auch im Bereich der Politik,aus der Verbindung von Religion und Glauben emanzipiert hat. Dieser Prozess, der sich mindestens über 300 Jahre erstreckt hat, hat jedoch zu einer fortschreitenden Abschwächung der Gründe für den Glauben geführt. In der Tat haben die Wissenschaft und die Technik in gewisser Weise gezeigt, dass sie die Lebensbedingungen und das Zusammenleben erheblich verbessern können. Die Geburt der Gewerkschaften im England der 1830er Jahre zum Beispiel, die Entstehung der organisierten Arbeiterbewerbung oder die Bauernbewegung haben extrem viele konkrete Auswirkungen auf das Leben der Menschen gehabt. All das, wenn auch natürlich etwas vereinfacht ausgedrückt, hat sich im Bewusstsein der Gläubigen und Nicht-Gläubigen festgesetzt. Soll heißen, dass der moderne Mensch die Tendenz hat, immer größeren Wert auf die konkrete Erfahrung, die er macht, zu legen. Und die Wissenschaft repräsentiert im Grunde genau das. Eine Krisensituation für den theatralischen Apparatus des Initiationsprozesses, wie ich es definiere.
Durch die Sakramente sollten wir zum Beispiel im Geist Gottes regeneriert werden, zu Kindern Gottes werden, an Gottes Natur teilhaben – doch in welchem Rahmen wird all das erlebt? Bis zu welchem Punkt wird dies von den Personen gelebt und verwirklicht? Diese Fragen schließen sich an das Phänomen an, welches du Maila in deiner Frage beschreibst. Papst Franziskus spricht im Evangelii Gaudium von einem Bruch in der Übertragung des katholischen Glaubens von Generation zu Generation. Dieser Bruch wird immer sichtbarer, wie ich behaupten würde. Die jüngeren Generationen sind immer weniger bereit, irgendwelchen liturgischen Formalitäten anzugehören oder Glaubensbekenntnissen, von denen sie die Bedeutung und den Sinn dahinter nicht verstehen. Sie schließen daraus – ausgenommen eine Minderheit natürlich – dass die Kirche nicht der Ort ist, an dem sie ihr Bedürfnis nach Sinn stillen können. Das Phänomen, dass du beschreibst, ist genau dieses des anwachsenden Bedürfnisses nach Spiritualität, welches die Kirche aber scheinbar außer Stande ist, zu befriedigen. Dies ist die gegenwärtige Situation, eine Grenzsituation. Es ist eine Bruchstelle, von deraus entweder eine sehr chaotische, synkretische und somit oberflächliche Suche Wurzeln schlägt, oder aber die Kirche muss ihre Sprache und die eigenen Strukturen radikal erneuern. Das Zweite Vatikanische Konzil hatte in der Tat den Weg einer neuen spirituellen Vertiefung angekündigt, beziehungsweise eine Wiederherstellung der patristischen Grundlagen des christlichen Glaubens, eine tiefgreifende Erneuerung. Doch dies wurde vielmehr durch eine Anpassung an die Welt umgesetzt. Doch wie es Benedikt XVI. dahingehend formuliert, gewinnen wir auf diese Weise nicht nur keine neuen Gläubigen, sondern wir verlieren auch die anderen, die die müde sind angesichts dieser ideologischen, soziologischen und nicht-initiatischen Sprache.
Der christliche Glaube ist in Wirklichkeit sehr einfach. Es ist der Glaube an Jesus Christus als neue göttliche Menschheit, die bereits da ist, die bereits herrscht und eine radikale Umwandlung aller Dinge voranbringt. Jegliche Aktivität der Kirche in dieser historischen Phase sollte meines Erachtens nach darauf abzielen, dass dieses Mysterium, das sich gerade vollzieht, auf immer persönlichere Weise erlebt werden kann. Alles andere entsteht dann daraus. Jedoch fehlt das Bewusstsein des initiatischen Zentrums unseres Glaubens. Die letzten Päpste, von Johannes XXIII. bis zu Paul VI., von Johannes Paul II. bis hin zu Benedikt XVI. und Franziskus haben sie alle explizit von einer pastoralen Umkehrung gesprochen und von der Notwendigkeit einer Rundumerneuerung des Stiles und der kompletten Sprache. Tatsächlich sehen wir aber wenig davon. Darüber hinaus impliziert der Übergang, den wir gerade alle durchleben, immer die Konfrontation mit zwei antagonistischen und sich ergänzenden Versuchungen. Das eine ist die nihilistische Strömung, also der Glaube in gewissem Sinne, dass die gesamte Geschichte zum Wegwerfen ist, dass jegliche Identität, jegliche Traditionen nur Gefängnisse sind, aus denen wir uns befreien müssen. Das andere ist die fundamentalistische Strömung, die wieder aufkommt. Erstere sieht zum Beispiel in den Religionskriegen der Vergangenheit, wie die unerbittliche Verteidigung der Identität eine Gefahr darstellt. Diese Kritik muss integriert werden. Gleichzeitig hat auch die fundamentalistische Kritik ihre Daseinsberechtigung, da sie das Erbe jahrhundertealten Reichtums nicht verlieren will. Sie will nicht, dass man alles in der Diktatur des Relativismus minimiert, so wie es Benedikt XVI. nennt. Es ist ein kontinuierliches Voranschreiten in der Menschwerdung, womit wir alle und die christliche Gemeinschaft in der Gesamtheit beauftragt sind.
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